Tagungsbericht von Dr. Jan Robert Weber zur Fortbildungsveranstaltung „Fortsetzung folgt. Von Schiller bis Babylon Berlin“ des Landesverbandes Hessen im Fachverband Deutsch im DGV vom 21. Februar 2019
Wer kennt nicht Tausendundeine Nacht, wer hat nicht Babylon Berlin gesehen? Das serielle Erzählen gab es schon immer, aber seit einigen Jahren erfreut es sich in Literatur, TV und Multimedia größter Beliebtheit. Grund genug für den Landesverband Hessen, diese uralte, traditionsreiche und zugleich brandaktuelle, transmediale Erzählform auf ihre Eignung für den Deutschunterricht zu prüfen.
Im ersten Vortrag „Fortsetzung folgt. Über Serien, Serialität und Transmedia in (Jugend-)Literatur und ‑medien“ gab Prof. Dr. Ute Dettmar (Institut für Jugendbuchforschung der Goethe-Universität Frankfurt am Main) eine ebenso informative wie ausführliche Übersicht über aktuelle Serien wie Harry Potter, Sherlock Holmes und Game of Thrones als Phänomen des Transmedia Storytelling, also auch von Serien des „Quality TV“, die einerseits aus der Literatur entstanden sind, andererseits in sozialen Medien eine vielfältige Resonanz gefunden haben. Ute Dettmar ging besonders auf die serielle Verfilmung des Jugend-Romans 13 Reasons Why von Jay Asher ein (Titel der deutschen Übersetzung und Serie: Tote Mädchen lügen nicht), eine der erfolgreichsten Netflix-Serien der Gegenwart: Die Beliebtheit dieser Serie resultiere nicht nur aus den Themen der sexualisierten Gewalt, des Mobbings und des Suizids, sondern auch aus der multiperspektivischen Darstellung der Lebens- und Leidensgeschichte von Hannah Baker. Sie führte im Anschluss aus, dass die narrative Struktur der Struktur des analytischen Dramas bzw. der Detektivgeschichte entspreche und darüber hinaus dem nach vorne erzählenden Thriller nahekomme. Der Rezipient könne die Todesgründe rekonstruieren, indem er der gleichsam aus dem Jenseits zu vernehmenden Erzählung Hannahs folge – den 13 auf Kassetten archivierten Ansprachen an die „Täter“. Neben diese Erzählung aus der Vergangenheit in kommentierten Rückblenden trete die Zeitebene der Gegenwart: Die zweite Erzählfigur, der anfangs in Hannah verliebte Clay Jensen, tritt als Angeklagter, Ermittler und Anwalt der Selbstmörderin auf, wodurch Vergangenheit und Gegenwart ineinander verschränkt werden.
Ute Dettmar verband schließlich die Kunst des seriellen, multiperspektivischen Erzählens mit der gesellschaftspolitischen Aktualität: In der Serie erscheine die High School als Ort der (sexualisierten) Gewalt und thematisiere damit den Zusammenhang von #Me-too-Bewegung, Gender-Ordnungen und Mobbing mit der Relativität von Sichtweisen auf Tatbestände, mit der Diffusion sozialer Interaktion und mit der Frage nach Wahrheit und Lüge in der zwischenmenschlichen Kommunikation.
Die abschließende Diskussion reflektierte die Serie mit dem Hinweis auf die problematische Romantisierung und Ästhetisierung des Suizids, was zu einem kontroversen Austausch über einen möglichen Werther-Effekt führte, dem didaktisch-pädagogisch im Unterricht begegnet werden müsse. Dr. Bernd Dolle-Weinkauff fasste mehrere Beiträge des Auditoriums dahingehend zusammen, dass die Serie als TV-Medium besonders geeignet sei, einen Romanstoff vielschichtig zu verarbeiten, was ein 90-minütiger Spielfilm nicht zu leisten vermöge.
Im zweiten Vortrag „Ästhetischer Staat und fortgesetzte Lektüre. Zur Serialität des Literarischen im 18. und 19. Jahrhundert“ führte Dr. Arno Meteling (Universität zu Köln) aus, dass Serialität als Ausdruck der technisch-industriellen Gesellschaft verstanden werden müsse, womit sie dem ökonomischen Prinzip der Wiederholung und Schema-Variation entspreche. Besonders interessant erschien vielen Zuhörern der Hinweis auf die kommerzielle Funktion des seriellen Erzählens für Verlag und Autor, mit immer neuen Episoden mehr Geld zu verdienen, was Meteling an historischen Beispielen wie Dumas’ Graf von Monte Christo ebenso verdeutlichen konnte wie an modernen pulp fictions. Sein Vortrag schloss mit einer Analyse von Schillers Geisterseher, in dem die klassische Ästhetik mit den Elementen populärer Unterhaltungsliteratur vor allem aus finanziellen Motiven verbunden worden sei.
Der dritte Vortrag „Zur komplexen Serialität in Babylon Berlin“ von Dr. Tanja Weber (Universität zu Köln) verdeutlichte anhand verschiedener Kategorien, nämlich der Narration, der Figuren, des Orts und der gesellschaftspolitischen Themen, wie intraseriale Komplexität funktioniert – und wie sie im Unterricht analysiert werden kann. Während die Narration achronologischen, verschlungenen Mustern folge, wiesen die Figuren, so die Kölner Medienwissenschaftlerin, eine Diversität auf, die zu polyvalenten Charakteren führe, was an den Protagonisten der Erfolgsserie Babylon Berlin – Gereon Rath und Charlotte Ritter – plausibel gemacht werden konnte.
Am Schluss wurde im Forum noch einmal die Kommerzialisierung des Erzählens in Fortsetzungen reflektiert, indem Serialität als eine ökonomische Strategie verstanden wurde. Zugleich wurde festgehalten, dass die serielle Narration eine innovative Form transmedialen Erzählens darstelle – nimmt sich doch die Serie die nötige Zeit, um episch zu erzählen, was sie mit den Strategien des komplexen Erzählens künstlerisch anspruchsvoll leisten könne.