Wie viele Worthilfen brauchen Schüler*innen bei der Lektüre älterer Literatur? Welche Textversionen verstehen sie? Und wie ist der Boom der vereinfachten Versionen zu bewerten? Der Bonner Literaturdidaktiker Prof. Dr. Florian Radvan führte bei der traditionellen Jahrestagung des Landesverbands Schleswig-Holstein/Hamburg in die Editionspraxis ein. „Was wünschen sich Schüler?“ war der Ausgangspunkt seines Forschungsprojektes an Bonner Gymnasien.
Paradoxerweise sei dies kein zentrales Thema für Schulen und auch nicht für die Verlage, obwohl einzelne Textausgaben zehntausendfach verkauft werden und die Schüler*innen ihre Literaturkompetenz darüber erwerben, sagte Radvan zum Auftakt der zweitägigen Veranstaltung in der Akademie Sankelmark nahe Flensburg.
Banalisierung durch Eindeutigkeit
Auch die Fachdidaktik fremdle mit der Editorik im Bereich der Literatur für Kinder- und Jugendliche, erläuterte Radvan, aber es gebe Synergieeffekte. Ziel sei es, Jugendgemäßheit herzustellen. So würden bei den vereinfachten, den akkommodierten Versionen bis zu 70 Prozent der Ursprungswörter ersetzt und damit ein besseres Verständnis unterstellt. Mehrdeutige Erzählaspekte würden durch Herausgebereingriffe in die Eindeutigkeit gedrängt, zeigte Radvan am Beispiel von Gottfried Kellers Novelle „Kleider machen Leute“ auf. Der Anspruch auf Transferleistungen werde damit aufgegeben. Wenig akkommodierte, aber gängige Editionen mit zahlreichen Anmerkungen, sogenannten Paratexten, störten andererseits erheblich den Lesefluss, verdeutlichte der Experte. Er stellte die Frage in den Raum, ob es nicht sinnvoller sei, die Nachschlagefähigkeit zu stärken und die Bereitschaft, nicht jedes Detail verstehen zu müssen – analog zur Fremdsprachendidaktik.
Mit Beispielen bekritzelter Reclam-Bände, die Generationen von Schülerinnen und Schüler in liebe- und mühevoller Arbeit während des Unterrichts hervorgebracht haben, demonstrierte Radvan auch die humorvolle Seite seines Themas. Die originellen Buchumschläge waren 1999 in einer Ausstellung des Museums für Gedankenloses zu sehen.
Nebensächliches nicht betonen
Insgesamt lässt sich fragen, wieviel fachliches Wissen für das Textverständnis nötig ist und ob nicht eher die Kontrastierung zum privaten Leseverhalten aufrechterhalten werden sollte. Schließlich würden die historisch-kritischen Ausgaben mit ihren zahlreichen Anmerkungen auch nicht gelesen, sondern dienten der Forschung, führte der Wissenschaftler aus. Zur Arbeit mit historisch-kritischen Ausgaben benötigen die Benutzer Methoden zum Umgang – das wird im schulischen Bereich nach Ansicht Radvans aber nicht problematisiert.
Und was meinen die Jugendlichen dazu? Schulprojekte im Bonner Raum ergaben, dass es meist nur wenige Wörter sind, die die Schüler*innen erläutert haben wollten. Wenn aber auch alle Nebensächlichkeiten erläutert werden, werden sie wichtiger, als es im Zusammenhang angemessen wäre. Radvan: „Dies müsste durch die Didaktik viel stärker gewichtet werden.“
Dem Expertenvortrag schlossen sich zwei Runden mit Workshops an, die zum Thema „Literatur pur“ ungewöhnliche Herangehensweisen an Mittel- und Oberstufenlektüren umsetzten.
Neu konstituierter Vorstand
Bei der Verbandswahl konnte sich mit Gabriele Knoop als Vorsitzender und Ingrid Spath-Nissen als Stellvertreterin nur noch ein Rumpfvorstand konstituieren, der die weiteren Aufgaben unter sich aufteilen wird. Damit kann die Tradition der jährlichen zweitägigen Tagungen auch im mitgliederstärksten Landesverband nicht mehr in der alten Form aufrechterhalten werden. Der Nordverband muss sich organisatorisch neu orientieren und sucht für die Veranstaltungsplanung und Erprobung neuer Formate nun ehrenamtliche Unterstützer außerhalb des Vorstands, dessen Verpflichtungscharakter mittlerweile offenbar viele abschreckt.