Tagungsbericht von Ursula Zierlinger zur Fortbildungsveranstaltung „Literatur im ‚Bilde‘. Comics und Graphic Novels im Deutschunterricht“ des Landesverbandes Hessen im Fachverband Deutsch im DGV und des Instituts für Jugendbuchforschung vom 25. Februar 2016
Comics und Graphic Novels im Unterricht – das ist immer noch eine „Grauzone“ in der Unterrichtspraxis. Für Kinder und Jugendliche sind sie seit Jahrzehnten nicht wegzudenken aus der Lesesozialisation, gehören selbstverständlich zu ihrem Alltag. In der Didaktik und Methodik des Deutschunterrichts aber sind sie nach wie vor Stiefkinder, wenn nicht gar „Misfits“. Die Auseinandersetzung damit ist für Lehrer*innen jedoch lebensnotwendig, da sie zum einen in die Lesegewohnheiten ihrer Schüler*innen einsteigen und sich zum anderen ein wichtiges Genre ihres Fachs erschließen können.
Aus diesem Grund hat der Landesverband Hessen im Februar dieses Jahres für die Fachkollegen Deutsch eine Fortbildungsveranstaltung angeboten, die diese Literatur in den Fokus nahm. Die Vorträge befassten sich mit der Wechselwirkung von Text und Bild, mit der Adaption von Literatur durch Comics und Graphic Novels sowie mit unterrichtspraktischen Aspekten.
Der Landesverband Hessen arbeitet seit fast zwanzig Jahren mit dem Institut für Kinder- und Jugendbuchforschung an der Frankfurter Goethe-Universität in der Planung und Durchführung der Fortbildungsprogramme zusammen. Mit Dr. Bernd Dolle-Weinkauff hatten wir im Institut einen exzellenten Kenner auf dem Gebiet Graphic Novels und Comics, der uns in der inhaltlichen Strukturierung der Tagung und der Suche nach Referenten sachverständig unterstützte.
Über den unterrichtspraktischen Einsatz von Comics
Der Einsatz von Comics oder Graphic Novels im Unterricht habe sich zwar bewährt, stehe aber immer noch nicht gleichwertig neben literarisch-sprachlichen Texten. Dr. Felix Giesa (ALEKI/Universität Köln) betonte in seinem Beitrag über den unterrichtspraktischen Einsatz von Comics, dass Comics im Deutschunterricht häufig lediglich eine Vehikelfunktion hätten – Anlass für eine Nacherzählung, Einstieg in eine literarische Vorlage, Vergleich mit dem Originaltext.
Es handle sich bei Comics und Graphic Novels jedoch um Werke, in denen ein hochgradiges Zeichensystem umgesetzt worden sei, dessen Eigenschaften erschlossen werden müssen. Comics sind literatur- und medienwissenschaftlich in ihrer Ästhetik und Systematik gründlich erforscht, so dass gesicherte Analysekategorien zur Verfügung stehen wie beispielsweise auch für den Film, der einen ähnlich schweren Stand im Deutschunterricht habe. Die literarische Form der Bilderzählung sei längst etabliert und von erheblicher gesellschaftlicher Breitenwirkung. Die „visual literacy“ sei bei Kindern immer schon vorhanden, so dass die unterrichtliche Kommunikation über graphische Erzählformen die intrinsische Lesemotivation lesefördernd unterstützen könne. Das evasorische Lesen, die inhaltiche Faszination könne in der fragegeleiteten Diskussion die wechselseitige Beziehung von Bild und Text vermitteln, also ästhetische Dimensionen und Darstellungsformen ins Bewusstsein bringen.
Ein Comic-Curriculum sei deshalb nicht nur wünschenswert, sondern dringend notwendig, da die Schulung des Schülersehens wesentlich für die Mediensensibilisierung der Schüler*innen sei.
Alle Referenten, so auch Giesa, zeigten an vielen Beispielen, wie die Analyse der eigenständigen, bildreichen Sprache in Comics und Graphic Novels den Blick für Zusammenhänge öffnen und die Medienkompetenz der Schüler stärken kann.
Spielarten der Graphic Novel
Dr. Bernd Dolle-Weinkauff selbst eröffnete die Veranstaltung mit einem Vortrag zu den „Spielarten der Graphic Novel“ und stellte prägnante Beispiele vor, um den Begriff „Graphic Novel“ in seiner Ambivalenz zu umreißen. Unterschiedlichste Text-Bild-Produktionen seien unter dem Schlagwort Graphic Novel versammelt worden. Häufig seien diese Werke weder Comics noch narrativ konstruiert. Immer wieder neue Versuche, den Begriff klar zu definieren, seien gescheitert, trügen nur zu weiterer Unübersichtlichkeit bei. Dolle-Weinkauff verfolgte aus diesem Grunde in seinem Vortrag einen anderen Weg der Annäherung und fragte: Welche vielfältigen Möglichkeiten graphischen Erzählens sind auszumachen? Er unterschied sechs signifikante Erscheinungsformen:
Graphic Novels, die
- Comicromane und in sich abgeschlossen sind. Eine wesentliche Rolle spiele dabei die Adaption literarischer Vorlagen, die Illustration von Klassikern, eine Reformulierung der Werke.
- originäre Stoffe literarisch verarbeiten, die politische, soziale und psychische Probleme thematisieren.
- Comics sind, aber keine Novels. Es handle sich um inhaltlich hochambitionierte, teilweise beeindruckende Werke, in denen aber kaum narrative Strukturen zu finden seien.
- Novels sind, aber keine Comics. In diesen Beispielen werde die Grammatik, also das Verhältnis von Bild und Schrift jeweils neu und anders erfunden. Äußerst raffiniert werde auf mehreren Ebenen von Text und Bild erzählt.
- Bilderbücher sind. In diesen Büchern werde die Entwicklung der Graphic Novel seit langem antizipiert. Auch hier werden piktographische, narrative und auch lyrische Elemente vielfach verknüpft.
- keine Graphic Novels sind. Es sei bei diesen Beispielen eher von stark verkürzten, illustrierten Texte bekannter literarischer Werke zu sprechen.
Für die Zuhörer erschloss Dolle-Weinkauff ein aktuelles Panorama bildnarrativer und verwandter Formen. Bestimmte Arten des Bilderbuchs und der Bildgeschichte stehen neben Literaturadaptionen und Comic-Romanen, die jeweils ganz unterschiedliche Lektürebedürfnisse und Rezeptionserwartungen zu befriedigen suchen.
„Das nicht, bitte das nicht!“ – Körperdarstellung in Comic-Versionen von Schnitzlers „Fräulein Else“ und Kafkas „Verwandlung“
Mit der graphischen Adaption hochliterarsicher Vorlagen setzte sich der Vortrag von Juniorprofessor Dr. Torsten Hoffmann (Goethe-Universität Frankfurt) auseinander. Hoffmann stellte von vornherein klar, dass er die von ihm vorgestellten Comicversionen positiv beurteile, da sie psychische Vorgänge visualisieren, Interpretationen der literarischen Vorlagen liefern und damit eigenständige Kunstwerke geschaffen worden seien. Körper literarischer Figuren abzubilden, sei ein heikles Thema.
Manuele Fiori habe in seiner Adaption der Schnitzler-Novelle die interne Fokalisierung der literarischen Vorlage in einer graphischen Multifokalisierung kongenial umgesetzt und durch die perspektivische Verwicklungstechnik andere Interpretationsmöglichkeiten geöffnet. Insofern sei gerade durch die komplexe Piktographie dieses Bildmedium dem Text Schnitzlers überlegen.
Auch die beiden Comicversionen der „Verwandlung“ leisten Erstaunliches. Im Werk von Robert Crumb und David Z. Mairowitz werde einmal mit Gregors Sicht gearbeitet, der nicht mehr trennen kann zwischen Menschsein und Insektengefühl. Zum anderen werde mit einer biographischen Analogisierung Kafkas biografisches Trauma – das Verhältnis zu seinem Vater – visuell umgesetzt. Die allegorische Dimension des Textes werde im Bildmittel herausgestellt, indem Mensch und Tier bildlich vereint erscheinen. Auf einer dritten Ebene werde mit einer textinternen Kontrastierung gearbeitet, indem zum Beispiel die Doppeldeutigkeit von Kafkas Text eindeutig interpretiert ist. Die Festlegung auf Gregors „point of view“ habe zwar eine Bedeutungsreduktion zur Folge, die aber eine durchdachte und in Text/Bild durchstrukturierte Deutungsvariante biete.
Richard Horne und Eric Corbeyran setzen andere Schwerpunkte. Mit der Vorlage gehen sie locker um, philologische Genauigkeit sei nicht intendiert. Das „ungeheure Ungeziefer“ wird von Kafka nicht näher bestimmt, die Art der Verwandlung Gregors ist damit der Imagination des Lesers überlassen. Horne/Corbeyran wählen eine Schabe. Eine biologische Erläuterung dieser Spezies findet sich auf der ersten Seite abgedruckt.
Damit ist die Verwandlung vollzogen, wieder eine Reduktion der Bedeutung, aber die paradoxe Situation wird entschieden klarer. Die drastische Darstellung der tatsächlichen Körperfunktionen schärft den Blick des Lesers für die Absurdität der Überlegungen Gregors, arbeitet also das „Kafkaeske“ des Textes demonstrativ heraus.
In der abschließenden Reflexion der Fragen „Was kann der Text?“ und „Was kann das Bild?“ kam Hoffmann zu dem Schluss, dass die Begegnung beider Formate produktiv sei, die visuelle Adaption der literarischen Vorlage weit über die Illustration hinausgehe, vielmehr neue und ungewohnte Interpretationszugänge eröffne.
Fazit
An die Vorträge schlossen sich lebhafte Diskussionen an, in denen das große Interesse der Teilnehmer deutlich wurde, aber auch, dass Comics und Graphic Novels im Unterricht nicht gang und gäbe sind. Kontrovers wurden auch die durchweg positiven Wertungen der bildnarrativen Werke diskutiert, so dass in diesem Zusammenhang auch die Frage gestellt wurde, ob und inwieweit graphisch codierte Literatur curricular installiert werden sollte. Deutschlehrer sind in einem Dilemma: Der Konsum von Massenzeichenware steht außer Frage. Die Schule hat die Aufgabe, Schülern Kriterien zu vermitteln, damit sie mit diesen Produkten umgehen und in der Qualität unterscheiden können, also für inhaltlich und formal komplexe bildnarrative Werke sensibilisiert werden. Das offizielle Netzwerk Schule bietet kaum Hilfe, so dass diese Fortbildungsveranstaltung die Lücke zwar nicht schloss, aber den Teilnehmern Argumente, Beispiele, Unterrichtsvorschläge und einen Einblick in die Forschung zur weiteren Reflexion und praktischen Umsetzung bot.