Ta­gungs­be­richt von Ursula Zier­lin­ger zur Fort­bil­dungs­ver­an­stal­tung „Geschichte(n) er­zäh­len. Aspekte des Er­zäh­lens im Deutsch­un­ter­richt“ des Lan­des­ver­ban­des Hessen im Fachverband Deutsch im DGV und des In­sti­tuts für Ju­gend­buch­for­schung vom 2. März 2017

Im Sep­tem­ber 2016 hatte sich der Ger­ma­nis­ten­tag in Bay­reuth dem Leit­the­ma „Er­zäh­len“ ver­pflich­tet und stellte „zen­tra­le Ge­gen­stän­de des Faches als Be­ob­ach­tungs­ob­jek­te selbst ins Zentrum“. Der Lan­des­ver­band Hessen nahm dieses Thema bewusst noch einmal auf. Kolleg*innen in Hessen, für die Bay­reuth nicht möglich war, sollte ein at­trak­ti­ves Angebot gemacht werden.

Eine äußerst ak­tu­el­le Frage wurde in den Fokus ge­nom­men: Wie hat sich die er­zäh­len­de neuere Li­te­ra­tur ent­wi­ckelt im Hin­blick auf die Be­zie­hung zwi­schen Faktum und Fiktion? In der Analyse sehr un­ter­schied­li­cher li­te­ra­ri­scher Genres nä­her­ten sich drei Re­fe­ren­ten dem hoch­kom­ple­xen Ver­hält­nis von er­zähl­ter und realer Welt.

„Was ist rea­lis­ti­sches Er­zäh­len?Im Un­ter­ti­tel ihres Vor­trags „For­men­wan­del des rea­lis­ti­schen Er­zäh­lens für Kinder. Dar­ge­stellt an aus­ge­wähl­ten Preis­bü­chern des Deutschen Ju­gend­li­te­ra­tur­prei­ses“ stellte Prof. Dr. Gina Wein­kauff diese es­sen­ti­el­le Frage. In allen Rea­lis­mus­theo­rien spiele die Ab­bild­funk­ti­on der Werke eine zen­tra­le Rolle. Wein­kauff selbst berief sich auf Umberto Eco, dessen Wirklichkeits- oder Fik­ti­ons­mo­dell  darauf fuße, in welchem Maße die Kon­struk­ti­on der er­zähl­ten Welt von der Wahr­schein­lich­keit be­stimmt sei. In Bezug auf Kinder- und Ju­gend­li­te­ra­tur vertrat Hans Heino Ewers bereits Ende der 1980er Jahre die These, der  kin­der­li­te­ra­ri­sche Rea­lis­mus könne nicht nur vom Mi­me­sis­kon­zept be­stimmt sein. Das WAS, die rea­li­täts­be­zo­ge­ne The­ma­tik stehe im Mit­tel­punkt. Mithin müssten Ar­beits­wei­sen des mo­der­nen psy­cho­lo­gi­schen Romans in die nar­ra­ti­ven Kon­zep­te von Kinder- und Ju­gend­ro­ma­nen auf­ge­nom­men werden. Auf diesem Hin­ter­grund ana­ly­sier­te Wein­kauff die Ent­wick­lung der Kinder- und Ju­gend­li­te­ra­tur seit 1959 von Krüss, Haugen, Wölfel, Pe­ter­son, Mebs, Nöst­lin­ger, Boie, Timm, Kuijer, Stein­hö­fel, van Leeuwen, Dayre, Cotrell Boyce und Martina Wildner. Die an­spruchs­vol­le Kinder- und Ju­gend­li­te­ra­tur mit ihrem span­nungs­vol­len Zu­sam­men­spiel mime­ti­scher und an­tim­ime­ti­scher Ele­men­te sei für die Li­te­ra­tur­di­dak­tik und somit für den Deutsch­un­ter­richt von be­son­de­rem In­ter­es­se. Die Be­geg­nung mit den un­ter­schied­li­chen Va­ri­an­ten des rea­lis­ti­schen Er­zäh­lens sei immens wichtig für das li­te­ra­ri­sche Lernen und die li­te­ra­ri­sche Sozialisation.

In noch höherem Maße spielt die Frage nach der Mimetik eine Rolle, wenn in li­te­ra­ri­schen Texten über Ge­schich­te ge­schrie­ben wird. PD Dr. Ste­fa­nie Catani stellte in ihrem Vortrag „Ge­schich­te er­zäh­len. Zum historisch-fiktionalen Er­zäh­len in der Ge­gen­warts­li­te­ra­tur“ die Not­wen­dig­keit heraus, sich mit dem Ge­schichts­be­griff aus­ein­an­der­zu­set­zen. Die Ge­schichts­wis­sen­schaft sei un­si­cher ge­wor­den. His­to­ri­sche Wahr­heit zu finden sei un­mög­lich, da Er­in­ne­rung nur über Se­lek­ti­on statt­fin­de, so dass – zu­ge­spitzt for­mu­liert – Ge­schich­te „gemacht“ werde, ein Akt der Ima­gi­na­ti­on sei. Diese Frag­wür­dig­keit der Ge­schichts­bil­der habe deut­li­che Aus­wir­kun­gen auf die Li­te­ra­tur. Catani cha­rak­te­ri­sier­te His­to­ri­sie­rungs­ver­fah­ren in der Ge­gen­warts­li­te­ra­tur am Bei­spiel der Werke ar­ri­vier­ter Schrift­stel­ler wie Hoppe, Sebald, Kehl­mann, Menasse, Köhl­mei­er, Timm, Beyer und Tro­ja­now: Wie kon­stru­ie­ren Autoren ihre Ge­schich­te nar­ra­tiv, wer erzählt über­haupt, wie wird die Be­zie­hung Gedächtnis–Erinnerung–Geschichte auf­ge­baut und welche Medien der Ge­schich­te werden genutzt. Was bleibt von der Ge­schich­te? Die Ver­gan­gen­heit werde durch die Ge­gen­wart be­leuch­tet, wobei es weniger wichtig sei, was erzählt werde, sondern wie Ge­schich­te gemacht werde, wenn man erzählt.

Eine naht­lo­se Er­wei­te­rung der The­ma­tik bot der Re­de­bei­trag von Prof. Dr. Matías Mar­tí­nez„Er­zäh­len zwi­schen Faktum und Fiktion“. Von der These aus­ge­hend, reine Ob­jek­ti­vi­tät sei genauso ein Mythos wie Wahr­heit und Wirk­lich­keit, betonte er die Not­wen­dig­keit der Ver­mitt­lung von Fik­ti­ons­kom­pe­tenz. Aktuell werde immer deut­li­cher, wie stark Medien, be­son­ders auch die neuen, „Wirk­lich­keit“ be­stim­men können. Dies er­schwe­re die Un­ter­schei­dung zwi­schen Faktum und Fiktion immens. Mar­ti­nez belegte das Dilemma an pro­mi­nen­ten Fall­bei­spie­len ge­fälsch­ter Au­to­bio­gra­phien, si­mu­lier­ter In­ter­views, kon­stru­ier­ter Reality-Shows, de­nun­zia­to­ri­scher Schlüs­sel­ro­ma­ne und au­tor­na­her li­te­ra­ri­scher Ich-Erzähler. Diese Bei­spie­le – René Pfis­ters Porträt über Horst See­ho­fer im Spiegel; Janet Cooke, Jimmy’s World; Truman Capote, Cold Blood; spek­ta­ku­lär er­fun­de­ne Star-Interviews von Tom Kummer und Bin­ja­min Wil­ko­mir­ski, Bruch­stü­cke: Aus einer Kind­heit 1939–1947 – zeigen die un­ter­schied­lichs­ten Stra­te­gien in der Fäl­schung des Fak­tua­len: Re­cher­che, nicht selbst über­prüft; reiner Betrug; Fiktion so plau­si­bi­li­siert und funk­tio­na­li­siert, dass sie fak­tua­le Geltung erlangt; Si­mu­la­ti­on; ge­fälsch­te und trau­ma­tisch ver­scho­be­ne Faktualität.

In der an­schlie­ßen­den Dis­kus­si­on zeigte sich, dass Fik­ti­ons­kom­pe­tenz sich nur er­wer­ben lässt, wenn sorg­fäl­ti­ge Kon­text­ar­beit be­trie­ben wird, Si­cher­heit trotz­dem kaum zu ge­win­nen sei. Feridun Za­i­mog­lus Über­zeu­gung, ge­äu­ßert im Kom­men­tar zu seinem Lu­ther­buch Evan­ge­lio, das Wort sei mäch­ti­ger als die Wirk­lich­keit, fand in den drei Vor­trä­gen deut­li­che ar­gu­men­ta­ti­ve Unterstützung.